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Wilhelm von Humboldts Bestimmung der Grenzen der Staatstätigkeit

Nur wenigen ist bekannt, dass eine der großartigsten Schriften gegen den übermäßigen Zugriff des Staates aus deutscher Feder stammt. Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts hat Wilhelm von Humboldt (1767-1835) die Frage gestellt, worin allgemein die Grenzen der Staatstätigkeit bestehen. Humboldt verfasste seine „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“ im Jahre 1792. Einzelne Abschnitte daraus erschienen in der Berlinischen Monatsschrift, der gesamte Text wurde allerdings erst 1851 aus dem Nachlass publiziert.

Grundprinzip
Nach Wilhelm von Humboldt besteht das Grundprinzip der Grenzen der Staatstätigkeit in seiner strikten Beschränkung auf die Notwendigkeit. Humboldts Ausführungen führen theoretisch zum allgemeinen Schluss, dass die Staatstätigkeit nicht der Nützlichkeit unterworfen sein darf. Dieses „Prinzip der Notwendigkeit“ (Abschn. XVI der „Grenzen der Staatstätigkeit“) wird von der Eigentümlichkeit des natürlichen Menschen in seiner Individualität abgeleitet. Das Nützliche hingegen, im Unterschied zur Notwendigkeit, zeigt nur Grade an und nicht das Prinzipielle. Wenn man vom Nützlichkeitsprinzip ausginge, so ließen sich gleichsam unendlich fortfahrend immer wieder weitere staatliche Veranstaltungen begründen.

Bei der Bestimmung der Grenzen der Staatstätigkeit geht es nicht nur um Freiheit an sich und für sich allein, sondern auch darum, dass dem Menschen Mannigfaltigkeit zugutekäme. Freiheit steht in enger Verbindung zur Eigenpersönlichkeit, die ohne Freiheit nicht denkbar ist, da die Herausbildung der Individualität Freiheit voraussetzt. Die Freiheit des Privatlebens erhöht sich in dem Grade, wie der Umfang des Handlungsbereiches des Staates sinkt. Beide stehen in Wechselwirkung zueinander. Der Ausweitung der Staatstätigkeit zuzustimmen, heißt, die Freiheit des Privatlebens einzuschränken. Damit stellt sich die Frage nach dem Grad der Willkürlichkeit beider Seiten.

Einmischung des Staates
Ziel aller Bildung ist es, die persönliche Eigentümlichkeit zur Entfaltung zu bringen. Individuelle Freiheit und die Mannigfaltigkeit von Lebenssituationen sind dazu die Vorbedingungen.

Für die Bestimmung der Grenzen der Staatstätigkeit folgt daraus „dass jedes Bemühen des Staats verwerflich sei, sich in die Privatangelegenheiten der Bürger überall da einzumischen, wo dieselben nicht unmittelbaren Bezug auf die Kränkung der Rechte des einen durch den andren haben“ (Abschn. III). Ein über die Schlichtung ziviler Streitigkeiten hinausgehender Staatseingriff ist illegitim. Vernunftgründe beschränken die Staatstätigkeit darauf, Übel zu verhindern, insoweit eine freiwillige Einigung in der Privatgesellschaft selbst nicht erreicht werden kann.

Auch wenn in diesem Sinn der Staatseingriff hinsichtlich seiner Funktion vernünftig gerechtfertigt wird, ist damit keineswegs Willkür beim Einsatz der Mittel erlaubt. Die Vernunft würde dies nicht zulassen.

Für Wilhelm Humboldt ist es von Übel, dass der Staat versuche, den positiven Wohlstand der Nation zu erhöhen, sei durch Armenanstalten oder Wirtschaftsförderung, sei es das Geld- und Finanzwesen oder der Auslandshandel. Alle diese Einrichtungen und Maßnahmen sind einer vom menschlichen Gesichtspunkt ausgehenden Politik unangemessen.

Der staatliche Mitteleinsatz kollidiert mit dem menschlichen Streben der individuellen Bildung in der Mannigfaltigkeit. Notwendigerweise bringt der Staatseingriff stets eine Einförmigkeit mit sich und damit eine der Privatgesellschaft fremde Handlungsweise. Dies führt dazu, dass, anstatt dass die Menschen ihre Leistungskräfte schärfen, die Betroffenen die Güter vom Staat auf Kosten ihrer Stärke erlangen. Die aus dem Zusammenwirken von Menschen hervorgehende Mannigfaltigkeit als höchstes gesellschaftliches Gut geht umso mehr verloren, je mehr der Staat sich in die gesellschaftlichen Beziehungen einmischt. Die vom Eingriff betroffenen Menschen geraten durch die staatliche Präsenz in die Rolle von Untertanen. Die überlegene Macht des Staates hemmt das freie Spiel der Kräfte, wie es innerhalb von Mitgliedern einer Lebensgemeinschaft gedeiht (Abschn. III). „Gleichförmige Ursachen haben gleichförmige Wirkungen. Je mehr also der Staat mitwirkt, desto ähnlicher ist nicht bloß alles Wirkende, sondern auch alles Gewirkte.

Der Staat will Ruhe und Folgsamkeit und bevorzugt somit Einförmigkeit. Die Menschen wollen aber Mannigfaltigkeit und eigene Tätigkeit. Allein wer die Menschen verkennt, wird annehmen, dass es dem Menschen lediglich auf Wohlstand und Glückssuche ankäme. Wer derartig räsoniert, gerät nicht zu Unrecht in den Verdacht, dass er „aus Menschen Maschinen machen will“ (Abschn. III).

Die Lebenskraft des Einzelnen kommt zur Geltung, wenn der Mensch selbst tätig werden kann und seine Tätigkeit sich mit der Idee des Eigentums und der Freiheit verbindet. Im Gegensatz dazu werden die staatlichen Eingriffe stets die Kräfte des Einzelnen schwächen und damit auch die Nation entkräften. „Alle Kraft setzt Enthusiasmus voraus, und nur wenige Dinge nähren diesen so sehr, als den Gegenstand desselben als ein gegenwärtiges oder künftiges Eigentum anzusehen.

Der Verstand und andere Kräfte des Menschen werden nur durch eigene Tätigkeit, persönliches Erfinden und selbstständige Benutzung gebildet. „Anordnungen des Staats aber führen immer mehr oder minder Zwang mit sich, und selbst wenn dies der Fall nicht ist, so gewöhnen sie den Menschen zu sehr, mehr fremde Belehrung, fremde Leitung, fremde Hilfe zu erwarten, als selbst auf Auswege zu denken“ (Abschn. III).

Dabei leidet nicht nur die natürliche menschliche Betriebsamkeit durch den Staatseingriff, sondern auch die Moral.

Wer oft und viel geleitet wird, kommt leicht dahin, den Überrest seiner Selbsttätigkeit gleichsam freiwillig zu opfern.“ Der betreute Mensch glaubt sich durch fremde Hilfe der eigenen Sorge überhoben und damit verschiebt sich die Vorstellung von Verdienst und Schuld. „Er glaubt sich nun nicht bloß von jeder Pflicht frei, welche der Staat nicht ausdrücklich auflegt, sondern sogar jeder Verbesserung seines eignen Zustandes überhoben …“ (Abschn. III).

Unter der Staatstätigkeit leidet nicht nur die Kraft des Einzelnen, sondern desgleichen die „Güte des moralischen Willens“. Der Staatseingriff macht glauben, man sei nicht bloß von jeder Pflicht befreit, welche der Staat nicht ausdrücklich auflegt, sondern sogar auch jeder Verbesserung der eigenen Lage enthoben.

Je umfassender der Staat tätig ist, desto mehr werden die Menschen versuchen, seinen Gesetzen und Vorgaben zu entgehen und jedes Entwischen für einen Gewinn zu halten. Je weiter die Staatstätigkeit um sich greift, desto kälter werden die Verhältnisse der Menschen zueinander. Auch bei den privaten gesellschaftlichen Beziehungen verlässt man sich immer mehr auf den Staat. Wo jeder sich auf die Hilfstätigkeit des Staates baut, erlahmt gleichermaßen die freiwillige gegenseitige Hilfeleistung. „Was nicht von dem Menschen selbst gewählt, worin er auch nur eingeschränkt und geleitet wird, das geht nicht in sein Wesen über, das bleibt ihm ewig fremd, das verrichtet er nicht eigentlich mit menschlicher Kraft, sondern mit mechanischer Fertigkeit.

Der Staat aber kann seine Kriterien nur auf die Resultate richten und die Regeln festlegen, die zu befolgen sind. (Punkt 3, Abschn. III). Dies hat zur Folge, dass, wenn der Staat sich um das positive Wohl der Bürger kümmern will, die Maßnahmen uniform sich auf eine gemischte Menge richten. Aus diesen Überlegungen folgert Humboldt als Grundsatz: „Der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; zu keinem anderen Endzweck beschränke er ihre Freiheit“ (Punkt 7, Abschn. III).

Die These von Humboldt lautet demnach: Je aktiver der Staat, desto passiver die Gesellschaft und entsprechend, dass ein dynamisches, kraftvolles Gemeinwesen einen möglichst passiven Staat voraussetzt. Der Widerspruch, dem ein aktiver Staat ausgesetzt ist, liegt darin, dass die Staatseingriffe ihrer Natur nach stets gleichförmig sind, während in der Gesellschaft die Mannigfaltigkeit herrscht bzw. herrschen sollte. Die Herausbildung der menschlichen Individualität ist der Leitgedanke für dieses Kriterium.

Grundsatz der Notwendigkeit, nicht der Nützlichkeit
Humboldt geht es darum, ein Prinzip für die Grenzen der Staatstätigkeit zu bestimmen. Dazu muss erstens beachtet werden, worauf sich der Herrschaftsanspruch der Regierung beziehen soll und zweitens, worauf sich die Staatstätigkeit erstrecken darf und wo ihre Grenzen liegen.

Humboldts Ausführungen führen zum allgemeinen Schluss, dass theoretisch die Staatstätigkeit strikt dem Prinzip der Notwendigkeit und nicht der Nützlichkeit unterworfen ist. Das Nützliche erfordert stets erneutes Tätigwerden, während das Notwendige die Staatstätigkeit – strikt negativ als Prinzip – die Grenzen der Staatstätigkeit bestimmt. Ein auf die Nützlichkeit gründende Rechtfertigung der Staatstätigkeit treibt den Staatseingriff immer weiter voran. Das Nützliche „erlaubt keine reine und gewisse Beurteilung. Es erfordert Berechnungen der Wahrscheinlichkeit, welche, noch abgerechnet, dass sie ihrer Natur nach nicht fehlerfrei sein können, Gefahr laufen, durch die geringsten unvorhergesehenen Umstände vereitelt zu werden …“ (Abs. XVI).

Die Abstufungen des Nützlichen sind unendlich. Sie fordern immer weitere Betätigung. Das Notwendige hingegen drängt sich von selbst auf und das, was die Notwendigkeit befiehlt, ist „immer nicht nur nützlich, sondern sogar unentbehrlich.

Die Eigentümlichkeit des natürlichen Menschen bestimmt die Grenzen dieser Notwendigkeit, und allein das Prinzip der Notwendigkeit ist „mit der Ehrfurcht für die Individualität selbsttätiger Wesen und der aus dieser Ehrfurcht entspringenden Sorgfalt für die Freiheit so vereinbar als eben dieses.“ Das Prinzip der Notwendigkeit ist demnach „das einzige untrügliche Mittel, den Gesetzen Macht und Ansehen zu verschaffen, sie allein aus diesem Prinzip entstehen zu lassen.“ Demgegenüber überzeugt nur mit Mühe die Nützlichkeit. Stets herrschen verschiedene Ansichten und Meinungen darüber, was nützlich sei.

Während die Begründung von Staatstätigkeit über die Nützlichkeit dazu führt, dass immer mehr Tätigkeiten als Gebiete der Staatstätigkeit infrage kommen, wird damit auch die Begründung in Kategorien der Nützlichkeit immer fragwürdiger werden. Die Lageanalyse verkompliziert sich. Ganz anders ist es mit dem Prinzip der Notwendigkeit bestellt, denn „mit der Befolgung dieses Prinzips wird die Lage immer einfacher und diese Einsicht immer leichter“ (Abs. XVI).

Die Schrift „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Staatstätigkeit zu bestimmen“ zählt unumstritten zu den Klassikern libertären Gedankenguts. Deutschland hätte es gutgetan, mehr auf Wilhelm von Humboldt als auf Johann Gottlieb Fichte zu hören. Eine umfassendere Darstellung der Gedanken Humboldt in ihrem geistesgeschichtlichen Kontext findet sich in meinem Buch „Kapitalismus, Sozialismus und Anarchie“ (KDP 2021).

 

Dr. Antony P. Mueller
ist seit März 2023 Wissenschaftlicher Beirat der Partei DIE LIBERTÄREN.